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Thea Uhr (1927 – 2012) hat den grössten Teil ihres Lebens in der Zentralschweiz verbracht – geboren und aufgewachsen ist sie aber in der Stadt Zürich. Als Theresia Martha Schrempp am 5. September 1927 auf die Welt kam, besass vor allem der Stadtteil Friesenberg, wo das Miethaus ihrer Eltern und sechs Geschwister heute immer noch steht, damals einen fast dörflichen Charakter. Ihr Vater Oskar Schrempp, dessen Vorfahren aus dem Schwarzwald in die Schweiz eingewandert waren, musste seine Bäckerei aus wirtschaftlichen Gründen aufgeben. Er ernährte seine grosse Familie fortan als Siegrist der katholischen Kirche Sankt Peter und Paul.
Die Schrempps waren aus heutiger Sicht arm und lebten in einem der Genossenschaftshäuser der Stadt. Der strenge, autoritäre Vater warf einen riesigen Schatten auf die Jugend von Thea Uhr. „Vater war gross und schwarz und brauchte Ruhe. Ich hatte Angst.“. So beginnt ihre autobiografische Erzählung Nahe bei Gott (1995). Der Vater verhängte drakonische Strafen: Als die beiden älteren Schwestern, die im eiskalten Keller Schuhe putzen mussten, zum Wärmen etwas Stroh anzündeten und so das Haus und seine Bewohner gefährdeten, „mussten sie eine Stunde lang auf ein kantiges Holzscheit knien.“
Der Vater bestand darauf, dass die kleine Theres auf ihrem Schulgang mit ihm zur Kirche lief, er jedoch schwieg den ganzen Weg. Dieses Schweigen empfand das Kind als schrecklich. Zärtlichkeit und Nachsicht gab es nicht, trotzdem stellte der katholische Pfarrer Theas Vater als Vorbild hin. „Unsere Stube war auch beinahe eine Kirche, alles sauber und aufgeräumt, für Vater bereit“, schrieb sie viele Jahre später.
Als Schülerin erlebte sie die Zeit des Zweiten Weltkriegs in Zürich, eine Zeit, die – obwohl die Schweiz vom Krieg verschont blieb -, das Leben der Menschen nachhaltig prägte. In ihrem Prosaband „Wir waren sieben“ (2011) schildert Thea Uhr anschaulich den kargen, oft angsterfüllten Alltag mit verdunkelten Fenstern und knurrenden Mägen, weil es nicht genug zu essen gab. Darunter litten nicht nur die Kinder: „Im Jahre 1944 stellte unser Hausarzt fest, dass Mutter unterernährt sei.“ Weil das kleine Theresli klug, brav und eine hochbegabte Schülerin war, interessierte sich sogar eine reiche kinderlose Zürcher Dame für ihre Adoption. Aber das Veto des Vaters verhinderte schliesslich die Sache.
Thea Uhr wollte in ihrer Jugend immer Lehrerin werden, kein leichtes Unterfangen für eine arme Familie. Aber sie hatte das Glück, dass eine Tante als Nonne im Kloster St. Klara in Stans (Kanton Nidwalden) lebte, und Thea wurde ins Internat aufgenommen. Wie sich später herausstellte, hofften die Nonnen, dass die neue Schülerin später ins Kloster eintreten würde. „Aber all ihr Beten und Opferbringen nützte nichts“, schrieb Thea Uhr. „Ich wurde keine Klosterfrau.“ In dieser Zeit schrieb sie vor allem religiöse Gedichte, die in Stil und Inhalt weit entfernt von ihren späteren Werken sind.
Das Leben im Stanser Internat empfand die junge Frau als eng und bedrückend. Während der Essen durften die Schülerinnen nicht sprechen, die sonntäglichen Spaziergänge fanden gemeinsam statt und wurden überwacht. Thea vermisste ihre Geschwister. Als ihr ein Freund ihres Bruders Karl eine harmlose Ansichtskarte schrieb, wurde sie vor die Oberin zitiert und gerügt. Aber Thea war eine äusserst intelligente und fleissige Schülerin, begabt nicht nur in „schöngeistigen“ Fächern und Sprachen, sondern auch etwa in Algebra. Innerlich rebellierte indes ihr kreativer, fantasievoller Geist gegen das strenge und oft sinnlose Regiment in der Klosterschule, die jegliche individuelle Freiheit erstickte.
Der frauenfeindliche Geist der fünfziger Jahre, als Frauen vom Staat und den Ehemännern bevormundet wurden und nicht einmal ihr eigenes Bankkonto eröffnen konnten, half ihr auch nicht. Thea trat für kurze Zeit eine Stelle als Primarlehrerin in Stans an, eine Arbeit, die sie nach der Heirat mit dem Lehrerkollegen Karl Uhr im Jahr 1951 aufgab.
Fünf Kinder kamen in rascher Folge, wie es sich für eine katholische Ehe gehörte. Trotzdem fand Thea Uhr Zeit, im Rundfunk über ihre amüsanten Erlebnisse mit den Kindern zu berichten. Der Tod ihres jüngeren Bruders Karl, der nach Australien ausgewandert war, aber an Leukämie erkrankte und 1958 im Alter von dreissig Jahren starb, traf sie schwer.
Ihre wahre Liebe, das Schreiben von Lyrik, konnte sich in jenen Ehejahren jedoch nicht entwickeln. Die Ehe war unglücklich, und Thea Uhr reichte 1968 die Scheidung ein, ein mutiger Schritt in einer Zeit, da Scheidungen in katholischen ländlichen Gebieten als Schande betrachtet wurden.
Später erzählte sie, dass sie das 1958 erschienene Buch „Frauen im Laufgitter“ der Schweizer Journalistin und Anwältin Iris von Roten nachhaltig beeindruckt habe.
Sie war nun allein erziehende Mutter von fünf Kinder, arbeitete Vollzeit als Primar- und später als Hilfsschullehrerin im Dorf Buochs am Vierwaldstättersee.
Sie sang weiter im Kirchenchor mit, denn sie liebte die Musik, vor allem Brahms, Bruckner, Beethoven, Mozart und Bach. Obwohl sie stark ausgelastet war, erwachte ihre Schreiblust in der zweiten Lebenshälfte so richtig. Schon früh waren Gedichte von ihr in Zeitungen und Zeitschriften erschienen. Ihren ersten Gedichtband gab sie aber erst im Jahr 1987 heraus (Windvogel). Danach erschienen die Lyrikbände Jahrschnüre (1990), Mäander (1994), Filigran (1997), Innenhof (2002), Mosaik (2006) und Hinüberland (2009). Sie wurde Mitglied des Innerschweizerischen Schriftstellerinnen- und Schriftstellervereins und gehörte später dessen Vorstand an. Sie war auch Mitglied der Gruppe Olten. Sie hielt Lesungen in der Schweiz und im benachbarten Ausland.
Nach und nach entdeckte sie auch ihr Talent für Prosatexte und veröffentlichte unter anderem ihre Jugenderinnerungen im Jahr 2011: „Wir waren sieben“. Da lebte sie schon in Beckenried, ebenfalls am Vierwaldstättersee. An der Fortsetzung dieser Erinnerungen schrieb sie bis kurz vor ihrem Tod am 11. September 2012. Eine postume Veröffentlichung dieser Aufzeichnungen ist geplant.
Thea Uhr reiste gern ins Ausland, so nach Elba, in die Toscana, an den Rhein in Deutschland oder nach Paris. Oft führten sie auch Lesungen ins Ausland, sei es nach Berlin und Hannover, nach Innsbruck oder ins Südtirol nach Bozen, Meran und Brixen. Ihre Ferien verbrachte sie aber meistens im Tessin, wo sie im warmen Klima aufblühte. Sie sprach sehr gut Italienisch (neben Französisch) und liebte das Lockere, Beschwingte der Italianità. Sie war äusserst belesen, interessierte sich für Geschichte, Kunst, Theologie, Frauen- und psychologische Fragen, bildete sich stets weiter (mit 73 Jahren machte sie sich mit Hilfe ihres Sohnes Klaus mit dem Computer vertraut und lernte auch einige englische Ausdrücke, da ihre Tochter Bernadette in Kanada lebt).
Sie führte gern angeregte Gespräche mit Bekannten, Familie und Freunden. Die überirdische Schönheit alter Abteien, Kreuzgänge oder romanischer Kirchen bewegte sie so stark, dass ihr bei deren Anblick manchmal Tränen der Freude über die Wangen liefen. Wenige Wochen vor ihrem Tod wagte sie sich mit ihrem ältesten Sohn Peter auf dem Lac de Joux in ein Pedalo, überwand so ihre riesige Angst vor dem Wasser und genoss das Abenteuer aus vollen Zügen.
Im Sommer 2012 fühlte sie sich aber immer schwächer, und im Krankenhaus Stans entdeckte man einen Tumor. Mit bewundernswerter Klarheit und Bestimmtheit akzeptierte sie ihr Sterben. Ihre fünf Kinder Peter, Klaus, Bernadette, Brigitte und Karl begleiteten sie in den letzten Wochen und Tagen, einmal mehr beeindruckt von dieser mutigen Frau, die sich gegen alle Hindernisse ein selbstbestimmtes Leben schuf und dabei ein eindrückliches literarisches Vermächtnis hinterliess.