Vom Schweigen und Grüssen
von Thea Uhr
Die Klosterfrauen übertrugen ihre strengen Regeln des Stillschweigens auch ins Institut. Das erleichterte ihnen, die Disziplin zu erhalten.
Vor der 10 Uhr-Pause hätte man keiner Kameradin vom schlimmen Traum oder von einem geplanten Streich erzählen können.
Stillschweigend aufstehen, sich waschen und ankleiden, ins St. Cäcilia zum Morgengebet eilen, nachher im Gang Jacke oder Mantel aus dem Kleiderschrank ziehen, zur Zweierreihe einstellen, die Treppe hinunter, zur Pforte hinaus, ein paar Schritte bis zur Kirchentür gehen, während der Messe andächtig sein, Gang und Treppe zurück zum Speisesaal absolvieren, sich Kaffee einschenken lassen und während des Brotkauens stillschweigend der dünnen, hohen Stimme von Schwester Johanna folgen:
„O süsseste Jungfrau Maria, du unsere Mutter, unser Vorbild im Dienen…“
Diese morgendlichen Betrachtungen waren schwer zu verdauen. Darum wagte ich mich einmal auf die Präfektur und bat um etwas leichtere geistige Kost.
Vielleicht aus dem Leben der Katharina von Siena oder des jugendlichen Don Bosco?
Schwester Präfektin meinte: „Ich wähle die tiefer gehenden Texte, um euch Seminaristinnen, die ihr etwas älter und reifer seid, Anregungen zum geistigen Wachstum zu bieten.“ – Hoffnungslos! Ich verliess die Präfektur.
Nach dem Morgenessen, das die einen mit Butter und Konfitüre von daheim anreichern konnten, folgte stillschweigend der Gang zum zugeteilten Klassenzimmer. Zwei Stunden Unterricht, in denen man prüfen konnte, ob die eigene Stimme noch vorhanden war und zum Antworten auf die Fragen der Lehrerin noch etwas taugte.
Endlich 10 Uhr! Pause, reden untereinander erlaubt! Der Essschrank wurde geöffnet. Darin war für jede Nummer ein Fach vorhanden. Die meisten Mädchen besassen dort einen Vorrat an Süssem oder Obst, den die Eltern immer wieder auffüllten. „Nummer 7, 21 und 32 haben ein Paket“, hiess es dann zum Beispiel am Tisch. So wurde das Fach der meisten Schülerinnen nie leer.
Meines schon. Aber wenn Mama die Wäsche schickte, fand ich zwischen den Hemden hie und da einen Schokoladeriegel, den ich mir beim Geige üben ohne langes Ueberlegen zu Gemüte führte.
Nach der abendlichen Rekreation folgte das Nachtgebet, nachher strengstes Stillschweigen! Wenn nötig, wurde zwischen uns geflüstert und sehr darauf geachtet, nicht erwischt zu werden.
Während des Unterrichts durfte auch in den schmalen Gängen nicht geredet werden. Einer Mitschülerin begegnete man mit einem leichten Kopfnicken.
Den Schwestern gegenüber war der hörbare Gruss erlaubt. „Grüss Gott, Schwester Veronika, Grüss Gott, Schwester Blandina!“
Die strenge und gefürchtete Klavierlehrerin war klein und rund. Wir nannten sie deshalb Schwester Quadrata. Einer Genferin, die den Deutschkurs besuchte, vertrauten wir diesen Übernamen an. „Grüss Gott, Schwester Quadrata“, sagte Yvette bei der nächsten Begegnung ahnunglos. Und die Antwort kam postwendend und bestimmt: „Ich heisse nicht Schwester Quadrata, ich bin Schwester Maria Gabriela!“
Unserer grossen, stämmigen Maria wollte das Klavierspielen gar nicht gelingen. Die Lehrerin schlug ihr mit einem scharfkantigen Lineal bei jedem Fehler auf die Fingerknöchel und hob die Stimme, so dass es auch in den Gängen zu hören war. Maria fürchtete diese Stunden.
Einmal versteckte sich Maria deshalb auf dem Estrich. Die Schwester fand keine Schülerin auf dem Klavierstuhl. Quadrata rief die Gänge hinauf und hinab nach der säumigen Elevin. Umsonst! Leider hat Schwester Maria Gabriela an diesem Tag das Gebot des Stillschweigens während der Schulstunden gründlich gebrochen. Über eine deswegen im Kloster verhängte Busse ist nichts überliefert.
Die Strenge von Schwester Quadrata erklärte uns die Präfektin so: „Schwester Gabrielas Vater war Instruktionsoffizier. Er hat seine Tochter nach militärischen Grundsätzen sehr streng erzogen. Augenblicklicher Gehorsam, soldatische Disziplin, Pünktlichkeit und pedantische Ordnung waren die Richtlinien seiner Erziehung. Und etwas von dieser Offiziershaltung ist in unserer Mitschwester halt noch lebendig.“
Schwester Maria Gabriela wurde sehr alt. Sie sei im Leiden sehr tapfer gewesen.
Ist sie gestorben wie ein Soldat?