Stanser Erinnerungen 4

Vom Spionieren im Kloster

Von Thea Uhr

Schwester Emmanuela war, neben der liebenswerten Schwester Paula, unsere Hauptlehrerin. Sie hatte an der Universität Fribourg Phil. II studiert. Noch trug sie am Klosterkleid die Flügelchen (Achselpatten), welche erst nach der ewigen Profess abgeschnitten wurden.
Als Kind meinte ich, Klosterfrauen dürften und würden nie streiten, nicht mit den Mitschwestern und auch nicht mit jemandem aus der übrigen Welt, der „Welt draussen“, zu der auch ihre Schülerinnen zählten. Nonnen waren fromm und immer lieb, so stellte ich sie mir vor.

Schwester Emmanuela unterrichtete Mathematik, Physik, Chemie und alle Naturwissenschaften. Sie war eine hervorragende Lehrerin. Im Fach Geschichte zum Beispiel gab es nicht einfach die Französische Revolution, losgelöst vom übrigen Weltgeschehen. Nein, die Lehrerin liess uns Zusammenhänge erkennen: Was geschah gleichzeitig in Russland oder Amerika?
Nur mich mochte sie von Anfang an nicht. Störte es sie, dass ich aus der Stadt Zürich kam? Oder gefiel ihr nicht, dass ich neun Schuljahre hinter mir hatte, ein Jahr mehr als die andern?

Es ging in jener Schulstunde um die Winkelsumme im Dreieck oder um den ersten Kongruenzsatz. Ich streckte die Hand in die Höhe, aber Emma (so nannten wir die Lehrerin unter uns) beachtete mich nicht. Weil sich sonst niemand meldete, gab die Lehrerin die Lösung selber bekannt. Das wiederholte sich. Lieber gab sie die Antwort selber, anstatt sie mich sagen zu lassen. Ich verstand nicht, was da geschah.

Ich war ihr verdächtig. Schwester Emmanuela öffnete in meiner Abwesenheit meinen Pultdeckel, sah mein Tagebuch und las sich kritisch in meine innersten Gedanken. Von Sehnsucht nach Liebe erzählten die Sätze, von Mutlosigkeit und Alleinsein, halt von den Themen einer Sechzehnjährigen.

In einer der nächsten Mathematikstunden schweifte die Lehrerin vom Thema ab. Eigentlich liebten wir das, wenn sie zum Beispiel von der Universität erzählte. „Ich habe die Mitstudenten nie als junge Männer wahrgenommen, es waren einfach Kollegen“, sagte sie einmal. „Mir war nur das Lernen wichtig, da wollte ich möglichst gut abschneiden.“ Von einem jener Studenten, der Schwester Emmanuela von der Universität kannte und später mein Lehrerkollege war, hörte ich, die kleine, nicht eben schlanke Streberin sei unter ihnen gar nicht beliebt gewesen, Sie hätten sie nur „Pfunzula Vulgaris“ genannt.

Aber jetzt sprach sie zur ganzen Klasse zuerst ganz allgemein von falscher Selbsteinschätzung, von mangelnder Bodenhaftung, von ungesunden schwärmerischen Gedanken, vom Kreisen um sich selbst und fehlender Demut. Nach etwa zehn Minuten merkte ich: Die meint ja mich! Und ich begriff, dass sie mein Tagebuch gelesen hatte!

War ich ein so schlechter Mensch, der nur negative Charaktereigenschaften besass? Ich war zerstört. War den Mitschülerinnen klar geworden, dass sie mich meinte, mich blossstellen wollte? Über diese Stunde reden konnte ich mit keinem Menschen.
Auch nicht mit meinem Tagebuch.