Aus: “Wir waren sieben”

Ringsum Krieg

von Thea Uhr

Ein besonderes Ereignis war 1939 die Landesausstellung, die am 6.Mai mit einem grossen Umzug eröffnet wurde. Alle Schüler und Schülerinnen der 6. Klasse durften dabei die Fahnen der 6oo Gemeinden mitführen. Ich trug jene eines Dorfes im Kanton Freiburg. Es war nichts Farbiges darin, nur Schwarz-Weiss.
Als Dank für das Mitmarschieren erhielten wir eine Eintrittskarte für die Ausstellung geschenkt. Als Tante im Herbst Zeit fand, mit mir in die „Landi“ zu gehen, freute ich mich sehr, denn die Ausstellung war für die ganze Schweiz ein grosses Ereignis. Vor dem Eingang mussten wir in einer langen Menschenschlange warten. Plötzlich tauchte ein Securitasmann auf, der uns Kindern ein Fähnchen in die Hand drückte und uns anwies, ein Spalier zu bilden. „Der General kommt!“ flüsterten die Leute. Er erschien zu Fuss, umgeben von Offizieren. Wir schwenkten die Fähnchen, und die Grossen klatschten sehr. Das Ganze dauerte nur kurz, wir rückten in der Kolonne wieder ein wenig vor. Aber, ich hatte den General gesehen.

Im September brach in den Nachbarländern der Krieg aus. Anfangs September fiel für ein paar Tage die Schule aus, weil unser grosses Schulhaus von Soldaten besetzt war. Es wurde bald beschlossen, dass wir im Ämtlerschulhaus ein Zimmer mit einer anderen Klasse teilen müssten. Halbtagsunterricht. Bei schönem Wetter führte uns der Lehrer am zweiten Halbtag in den Wald, das gefiel allen. Aber es gab einen längeren Schulweg und mehr Hausaufgaben. Und die Stimmung unter den Grossen war bedrückt.

Im Frühling 1940 wurde mein Schulweg noch länger, ich brauchte am Morgen und am Abend je eine Stunde, denn die katholische Mädchen-Sekundarschule lag am anderen Ende der Stadt. Gab es auf dem Heimweg Fliegeralarm, mussten wir im nächsten Haus Schutz suchen. Im Modehaus oder im Schuhladen Aufgaben zu schreiben, das war nicht alltäglich.

Wir wurden mit vielen Klausuren eingedeckt: Rechnen, Geometrie, Geografie, Französisch, Chemie. Leider sprachen sich die Lehrerinnen untereinander nicht ab. Da hatte ich eine Idee, ich verfasste einen „amtlichen“ Brief. Brot, Milch, Zucker, Eier und Reis erhielt man nur noch gegen Rationierungsmarken. Ich schrieb der Schwester Oberin im Namen des Bundesrates, dass ab sofort auch die Klausuren rationiert werden müssten. Pro Monat sei nur noch je eine Prüfung pro Fach erlaubt. Zuwiderhandlungen würden Verurteilungen zu grossen Geldbussen nach sich ziehen. Zum Schluss setzte ich eine nicht lesbare Politiker-Unterschrift aufs Papier Ich warf den Brief in den Kasten neben dem Portal. Einige Tage später hörte ich, dass die Nonnen überlegt hätten, wer von den Grossen der dritten Sekundarklasse wohl so kühn gewesen sei, auf eine Kleine vom ersten Kurs kamen sie nicht. Aber die Anzahl der Prüfungen blieb, leider!

Der Bundesrat bat die Bevölkerung, sparsam zu sein, z.B. mit dem Leder. Im Sommer sollten, vor allem die Schulkinder, barfuss gehen. um die Schuhe zu schonen. Als Patriotin lief ich vierzehnjährig zweimal täglich barfuss durch die Stadt. Erstaunte Blicke von Erwachsenen oder Bemerkungen von den Mitschülerinnen störten mich nicht, ich wollte dem Lande dienen. Mit staubigen oder nassen Füssen konnte ich einen Beitrag zur Versorgung des Landes leisten.
Wasser für das abendliche Fussbad gab es genug.

In der Stadt gab es auf den Dächern grosser Häuser etwa 35 Sirenen. Manchmal setzte der Alarm nicht ganz gleichzeitig ein. Das Auf- und Abschwellen der schaurigen Töne erzeugte Angst. Einmal kam Vater abends gegen neun Uhr heim. Atemlos stürzte er ins Haus, denn er hatte über dem Güterbahnhof Bomben fallen gesehen.
„Sofort alle in den Keller“, keuchte er. Erst, als die ganze Familie zitternd im Dunklen stand, setzte das Sirenengeheul ein. Tante betete laut, und ich dachte: Wenn nur nicht alle sofort tot sind! Im Spital kann man wieder geheilt werden. Nur nicht alle tot!
Einmal waren wir nach einem Anlass der Pfarrei spät auf dem Heimweg. Beim Bahnhof Wiedikon warteten wir aufs Tram. Über uns hörten wir fremde Flugzeuge. „Bomber“, sagte Vater, „Die fahren jetzt nach Wien und werfen dort ihre schlimme Fracht ab.“ Ich dachte, wenn man jetzt nur dorthin telefonieren könnte und die Menschen warnen, dass sie nicht in den Häusern bleiben! Der Alarm kommt ja oft zu spät! Und ich hoffte, dass die Sirenen bald überall verstummen dürften!

Im nahen Genossenschaftshaus war Militär einquartiert. Wenn die Männer am Abend draussen ihre Schuhe putzten, standen immer ein paar Buben um sie herum, die sich Militärbisquits erbettelten. Und aus der Küche duftete es gut. Wir durften mit unserem Milchkessel anrücken und um Suppe anstehen. „Wie viele Kinder seid ihr?“ fragte der Soldat am grossen Bottich. War es der Küchenchef? „Sieben? Ja, dann braucht es mehr.“ Und er füllte das Gefäss beinahe randvoll. Weil in der feinen Suppe oft noch kleine Fleischstücke herum schwammen, musste man am Freitag die Kessel im nahen Pfarrhaus vorzeigen und um die Erlaubnis bitten, die Kraftbrühe auch am Fasttag verbrauchen zu dürfen.
Im Mai 1940 fürchteten wir, von der fremden Armee angegriffen zu werden. Ob unsere Soldaten an der Grenze der Übermacht hätten standhalten können?
An jenem kritischen Tag machte ich mich nach der Schule um vier Uhr auf den Heimweg. Die Strassen schienen leer, keine Autos und nur wenige Menschen mit versteinerten Mienen waren zu sehen. In unserer Stadt wusste man zu dieser Stunde nicht, ob die Deutschen schon eingedrungen waren. Ich dachte voll Angst: Wenn sie nur noch nicht bis Zürich vorgedrungen sind, bevor ich daheim bin!

Am nächsten Schultag fehlten drei Kameradinnen. Anita, zum Beispiel, sei mit ihrer Familie nach Andermatt gefahren, wo ihre Grosseltern lebten.
Alle Einwohner der Stadt erhielten ein kleines Täfelchen, das man an einer Schnur um den Hals tragen musste. Sie wurden mit Galgenhumor „Totetäfeli“ genannt und sollten im schlimmsten Fall zur Identifizierung dienen. Neben dem Geburtsdatum standen bei mir die Vornamen Theresia Maria, als zweiter Name also nicht Martha, wie es auf dem Taufschein hiess, das gefiel mir.

„Kommst du mit?“ fragte Eugenie. „Ich muss ins deutsche Konsulat. Wir
Österreicher sind ja jetzt Deutsche geworden, und die neue Staatsangehörigkeit muss in meinem Pass vermerkt werden.“ Vom Hirschengraben her, wo unser Schulhaus stand, war es nicht weit zum Konsulat an der Kirchgasse, also tat ich der Schulkameradin den Gefallen. Nach fünf Treppenstufen standen wir vor einer grossen, schweren Eichentür. Dahinter ein Schalter. Die Dame fragte nach unserm Begehr und schickte uns zwei grosse Treppen hinauf, die im rechten Winkel zueinander standen. An der Wand hinter dem ersten Absatz thronte Hitler auf einem sehr grossen Bild. Ein Uniformierter, der es sehr eilig hatte, kam uns von oben her entgegen. Weil er uns nicht beachtete und ohne Gruss an uns vorbei ging, kamen wir um den Gruss herum. Vor dem Büro klopften wir, Eugenie musste hinein und ihren Pass vorweisen. Ich wartete. Als sie nach kurzer Zeit heraus kam, eilten wir rasch auf die Strasse zurück. Der deutsche Gruss war uns nicht abverlangt worden. Und „Heil Hitler!“ Diesen Gruss hätte ich verweigert.
Papa war abends gar nicht erbaut, von meiner Eskapade zu hören.
„Du hättest nicht mit hinein gehen dürfen, im Konsulat steht man auf deutschem Staatsgebiet. Mit unserem Namen, der im Schwarzwald heimisch ist, hättest du in Schwierigkeiten kommen können!“.
Eugenie und zwei andere aus der Klasse, machten in Zürich im Bund Deutscher Mädels, BDM, mit. Im Sommer durften sie in ein Ferienlager an den Rhein nördlich von Basel reisen. Nachher schwärmten sie vom guten Essen: Viel Butter aufs Brot, Fleisch und beinahe täglich Schokoladen! Ob sie als Deutsche gezwungen waren, in unserer Stadt an diesen Gruppenstunden teilzunehmen, konnte ich mir nicht vorstellen. Wir anderen lernten besonders gut für die Geografiestunden, zum Beispiel das Aufzählen aller Schweizerpässe. Sie führen von wo bis wo? Ich glaube, es waren 150! Diese Deutschen sollten uns nicht übertrumpfen!
Einmal machte ich auf dem Heimweg durch die Altstadt einen kleinen Umweg, denn ich hatte ein ungewohntes lautes Rufen gehört. Jugendliche und ältere Menschen standen um einen alten Brunnen herum. Drei Stufen führten zum kreisrunden Wasserbecken hinauf. Und dort stand er, der Rufer. Er hielt eine grosse weisse Fahne hoch und predigte wie ein Pfarrer vom Frieden, den die Welt so nötig habe.
„Ich bin der Friedensapostel Max Daetwyler. Ich werde nach Berlin gehen und dort mit so starken Worten reden, dass auch DER dort einsichtig wird und Frieden macht!“
Einige Menschen lachten, sprachen vom Spinner, andere fanden ihn mutig.
Am Schluss schwenkte der Redner seine weisse Fahne und schritt gegen den Utoquai davon.
Oft zogen die grossen Liberatorbomber über die Stadt, um in Dübendorf zu landen, besonders dann, wenn sie in Schwierigkeiten geraten waren. Oder sie wurden vom Schweizer Militär zur Landung gezwungen, weil sie unseren Luftraum verletzt hatten.
An einem Septembertag, meinem Geburtstag, half ich der Mutter beim Wäscheabnehmen. Ich schaute zum Himmel hinauf. Das grosse Flugzeug wurde von unseren kleinen Jagdflugzeugen begleitet. Über dem Zürichberg sah ich etwas Brennendes zur Erde trudeln. „Die werfen Bomben ab!“ schrie ich. Mama meinte: „Nein, das ist etwas Grösseres, ein Flugzeug.“ Es war eines unserer Jagdflugzeuge. Hatten sich die Amerikaner noch über Feindesland gemeint? – Plötzlich machte es ringsum im Garten: Klack, klack. „Sofort ins Haus!“ rief Mama, „das ist unsere Fliegerabwehr!“
Am nächsten Tag stand in der Zeitung, dass sich der Pilot des abgeschossenen Flugzeugs mit dem Schleudersitz retten konnte. Gott sei Dank! dachte ich.

Für die ganze Stadt war Verdunkelung vorgeschrieben. Das Lichtermeer über Zürich hätte den amerikanischen Flugzeugen die Orientierung erleichtern können. Sie flogen ja nach Norden, um Städte im Nachbarland zu bombardieren. Beim Küchenfenster gegen den Garten hing es ein grosses schwarzes Filztuch, das oben an Nägeln befestigt werden musste. Kein verräterischer Lichtstrahl sollte nach aussen dringen.
Wer spät heim kam, war froh um eine kleine Taschenlampe. Einmal kam Tante im Winter bei Dunkelheit vom Tram und sah erschreckt, dass auf dem Trottoir ein Dohlendeckel fehlte. Da hätte jemand böse stürzen können! Weiter oben gähnten noch mehr solche Löcher zum Himmel. Die gusseisernen Deckel lagen überall am jeweiligen Gartenhag. Tante kam ganz aufgeregt in die Stube. Nach ihrer Schilderung beschloss man, die Polizei zu benachrichtigen. Starke Männer würden die schweren Deckel wieder an ihren Platz bringen und ein Unglück verhüten. Wir konnten beruhigt schlafen gehen. Von der Polizei bekam unsere Tante die Woche darauf sogar noch ein Dankesschreiben!

Im Jahre 1944 stellte unser Hausarzt fest, dass Mutter unterernährt sei. Sie hatte den schnell wachsenden Brüdern immer wieder von ihrer Brotration zugesteckt und die Butter für den Vater gespart. Jetzt erhielt sie zur Stärkung Extra-Rationen, Ob nur sie davon profitierte?

(Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung von Edition Isele)