Stanser Erinnerungen 9


Von verbotenen Kniesocken und langen Zöpfen

Der erste Tag

von Thea Uhr

Früh am Morgen fuhr Tante Josy mit mir nach Luzern und von dort aus mit dem Dampfschiff nach Stansstad. Sie hatte ein Retourbillet, ich nicht. Es war der 28. April 1943, ein sonniger Tag, Mittwoch nach Ostern.

Für mich ein Neubeginn, fremde Menschen, ein fremdes Haus, ein fremdes Bett. Aber Sr. Ignatia, meine mir noch unbekannte Tante, wohnte ja dort. Meine Begleiterin freute sich sicher darauf, ihre ältere Schwester wieder einmal zu sehen und mit ihr plaudern zu können. Die Briefe ins Kloster schrieb ja meistens Papa, und weil seine Nachrichten stets ausführlich gerieten, blieb für Tante Josy auf dem Papierbogen meist nur noch Platz für einen lieben Gruss.

Von der Schifflände zum Bahnhof nahm mein Koffer mit jedem Schritt an Gewicht zu. Mit der kleinen Schmalspurbahn war es nur eine kurze Fahrt zum Ziel, dem Kantonshauptort Stans. Hier half Tante beim Tragen über den Dorfplatz, an der grossen Kirche vorbei und die Gasse hinauf zur Klosterpforte.

Nach einem kurzen Atemholen zog Tante den Griff an der gedrechselten Glockenschnur herunter, es klingelte fein. Zu meinem Erstaunen gab es in der Holztüre ein vergittertes Fensterlein, das sich öffnete. Ein kleines Gesicht, von einer braunweissen Haube umschlossen, grüsste mit freundlichem Nicken und bat um etwas Geduld, sie werde Sr. Ignatia herbitten. Wir sollten unterdessen durch die linke Türe treten und im Empfangszimmer Platz nehmen.

Ein stilvoller, festlicher Raum, an zwei Wänden hingen Bilder, sie schienen mir sehr alt zu sein. Es roch so sauber. Aber rechts war keine Wand, nur ein grosses Gitter! Normale Besucher durften mit einer ihnen bekannten Schwester nur durch das Gitter sprechen. Waren die Nonnen denn hier auf immer und ewig eingesperrt?

Nun hörten wir Schritte und ungewohntes Kleiderrascheln. Die Klostertante im braunen Habit erschien. Die beiden Schwestern schüttelten sich die Hände. Jahrelang hatten sie sich nicht mehr gesehen, da gab es jetzt allerhand zu fragen und zu berichten. Ich sass still und ein wenig eingeschüchtert daneben. Bald musste Schwester Ignatia zum Mittagessen ins Kloster zurück. Eine junge Schwester servierte uns ein einfaches Mahl. Ich fragte Tante Josy, wie ich nun die mir noch so fremde Klostertante ansprechen müsse.
„Darf ich Du sagen?“
„Ich werde sie am Nachmittag fragen“, versprach meine Tante.

Um zwei Uhr erschien die Nonne wieder. Wir stiegen im Institut eine Treppe zum Estrich hinauf, wo sich die schmalen, hölzernen Kleiderschränke befanden.
„Da ist es, Nummer 4! “ Und die Tanten packten meine Sachen aus. Vier Paar neue Kniesocken waren dabei. Mutter ging selten in die Stadt zu den grossen Warenhäusern, aber in der EPA hatte sie letzte Woche für mich Neues, das ich als viertes Mädchen fast nie erhielt, eingekauft. „Die müssen zurück“, verlangte die Schwester, „unsere Zöglinge tragen nur Strümpfe!“ Das tat weh!

Ich stand neben den beiden Frauen, nicht gewohnt, dass eine Fremde sich meine Wäsche besah und sie in mein Fach schichtete. Man brauchte mich nicht.
Ein ungestümes Mädchen stürmte die Treppe herauf.
„Ich bin Graziella aus Milano, komm, ich darf dir alles zeigen!“ Froh, endlich wieder einen jungen Menschen um sich zu haben, zog sie mich mit. Sie öffnete eine Türe. „Das ist der Schlafsaal!“
Wieder ein ungewöhnlicher Anblick! Daheim hatte ich das grosse Zimmer über der Stube mit meinen drei älteren Schwestern geteilt, hier aber standen dreissig Betten!
„Am Abend zieht man die weissen Vorhänge, deren Schlaufen an Stangen hängen, zu, am Morgen faltet man sie wieder sorgfältig zusammen. Und rechts ganz hinten ist die Zelle für die Schwester, die Aufsicht! Da drinnen herrscht Stillschweigen!“

Von schmalen Gängen zweigten die Schulzimmer ab, ich zählte mindestens zehn Unterrichtsräume. Es gab Klavierzimmer, Handarbeitszimmer, ein Physikzimmer und den Speisesaal.
„Die anderen Schülerinnen kommen erst gegen Abend, von Genf, Chur und Lugano dauert die Anreise doch viele Stunden.“
Etwas traurig erklärte Graziella: „Ich konnte in diesen Osterferien nicht heim reisen, weil unser Land im Krieg ist. Zu meinem Glück lebt im Kloster auch Schwester Christina aus Como, und in diesen Wochen durfte sie mit mir italienisch sprechen.“

Wir liefen treppauf und treppab, guckten auch in einen Raum mit Becken zum Füssewaschen, die allerdings auch nach langen Märschen nie benutzt wurden.
Meine neue Kameradin sprach vom Stillschweigen, von den Regeln, wie man eine Nonne im Gang begrüssen musste, wieviel Zeit uns blieb zwischen Aufstehen und Morgengebet (ich dachte an meine langen Zöpfe!), wann in den Pausen der Essschrank geöffnet werde, dass wir die Briefe der Präfektin offen abgeben müssten – und noch viel mehr. Mir schwirrte der Kopf.
Und weil ich alles von Anfang an gut machen wollte, klopften wir an der Türe der Präfektur.

Sr. Johanna begrüsste mich. Ich fragte schüchtern nach einem Exemplar der Hausordnung.
„Ich möchte sie auswendig lernen, damit ich keine Regel verletze.“ – Die Schwester meinte: „Das kannst du bald, lernen musst du das nicht.“
Graziella flüsterte: „Du musst immer zuerst Entschuldigung sagen, bevor du eine Schwester ansprichst.“
Ich dachte:“ Fragen ist doch keine Schuld, aber vielleicht kommt man ungelegen und stört.“

Tante Josy tauchte mit der Klostertante wieder auf. Fragen nach dem Leben in der Stadt hatten gestellt und beantwortet werden können.
Bevor meine Reisebegleiterin zum Bahnhof verschwand, wollte ich wissen, wie ich Sr. Ignatia anreden müsse.
„Du kannst ihr Du sagen.“
Und schon schritt Tante „Seppali“, wie sie hier im Dorf von klein auf gerufen wurde, dem kleinen Bahnhof zu.