Eine Welt aus lauter Augenorten und Ohrenorten
von Franziska Greising
Seit Thea Uhr und ich uns kennen, hatten wir sporadisch einen Briefwechsel aufrecht erhalten. Wir schickten uns unsere Arbeiten zu mit der Bitte um einen Kommentar, wir haben uns Grüsse aus den Ferien, Geburtstagswünsche übermittelt. Einmal lag ihrem Brief das Gedicht Dunkler Gott bei. Dazu der Satz: „Ich möchte das männliche Gottesbild in Frage stellen.“
Durch die ganze Arbeit von Thea Uhr zieht sich dieses In-Frage-Stellen. Sie basiert, so scheint mir, auf den drei Grundpfeilern aller Poesie, dem genauen Hinschauen und Hinhören und auf der sprachlichen Kompromisslosigkeit.
Thematisch ist nichts für diese Dichterin zu erhaben, um es zu würdigen oder anzuzweifeln. Weder das Blühen und Vergehen im Garten vor dem Haus, noch die schreckliche Nacht nach dem Beben, das weit weg von hier eine ganze Stadt zerstört hat, waren für sie tabu. Vom Grünen gewisser Mauerhäute, von zugeschwiegenen Tagen, vom zerrissenen Netz wenn einer geht, von Augenblicken mit Sonnensaum und unerkannt entkommenden Tagen gibt sie literarisch Bescheid. Kein Abschied, keine Umarmung, kein Ort ist ihr zu bescheiden, kein Skandal zu bedenklich, um nicht Literatur zu werden.
Wo sich Skepsis meldet, geht sie ihr auf den Grund und bringt sie zur Sprache. Sie tut dies ganz ohne Überheblichkeit. Ihre Anklage verbrämt sie nicht mit einem Unterton der Rechthaberei sondern sie erhebt sie voller Demut. Der Demut grosser Menschen. Einfühlsamer Menschen, die, wo immer sie leben, sei es in Indien, in New York oder in Beckenried am Vierwaldstättersee, sich als Teil des Ganzen verstehen. Es sind Menschen, deren Welt aus lauter Augenorten und Ohrenorten besteht. Menschen mit einer Wachheit und Empfindsamkeit, die auch ein Fluch sein können. Ausweichen jedoch wird jemand, der diese Gaben besitzt, nicht. Und so war Thea schon als Kind.
Man kann es nachlesen in ihrem Wir waren sieben (Edition Isele, 2011). Es ist die Schilderung einer patriarchalen, von Bigotterie geprägten Familienstruktur, die uns den Atem gefrieren lässt, und von der sie kaum je gesprochen hat. Wer aber das Buch gelesen hat, kann vielleicht verstehen, welche Anstrengung und welche Begabung es braucht, um sich aus diesem Gefängis der Angst und Einschüchterung zu befreien. Dem Buch war eine lange Phase der Auseinandersetzung mit der Persönlichkeit ihres Vaters vorausgegangen. Schon in einer ihrer raren Erzählungen aus jenen Jahren, Nahe bei Gott (in Geschichten, 1995 Raeber Verlag Luzern) lässt sie uns an dieser Auseinandersetzung teilhaben.
Ganz zu Beginn ihres Schreibens hatte sie Schnitzelbänke für unzählige Anlässe und Feste geschrieben. Moritate, die ihr Beifall und neue Aufträge brachten, Säle mit Lachen füllten. Sie hätte ihren Weg als Bänkelschreiberin machen können, an Publikum hätte es nicht gefehlt. Doch der gewaltsame Gott ihrer Kindheit liess sich auf Dauer nicht weglachen.
Menschen, wie Thea einer war, wissen, dass alles mit allem zusammenhängt und dass es auf dieser Erde kein Entrinnen gibt. Genaus so wenig wie es ein Verlorengehen gibt. Und obwohl diese Menschen immer wieder erfahren, dass dieses Gebundensein Grenzen setzt, revoltieren sie weiter. Sie haben eigentlich nur daran keine Zweifel, dass wir das Recht haben zu zweifeln und dass unsere einzige Freiheit darin besteht, Verantwortung zu tragen für das, was geschieht oder eben nicht geschieht. „Ich bin allen Beteuerungen von Regierungen gegenüber misstrauisch, ungläubig“ schrieb sie einmal.
Wie Thea Uhr von Ausgabe zu Ausgabe die Dichte und Tiefe ihrer Gedanken in immer feinsinnigere, immer leichtfüssigere Worte umzusetzen verstand, kommt beim Blättern in ihren Gedichtbänden zum Audsdruck. „Ich merke“, stand in einem ihrer Briefe, „dass ich mich durch das Schreiben verändere.“ Hinter jeder Zeile steht die Auseinandersetzung mit Hinzufügen und Reduktion. Und wenn ihr wirklich mal die Literatur zu leise und zu langsam schien, wenn es augenscheinlich wurde, dass ein Gedicht auf die Schnelle nichts zu verändern vermag, ganz besonders aber, wenn Individuen, sagen wir es deutlicher: wenn Frauen vor aller Augen bis auf den Tod erniedrigt wurden, dann war es aus mit der Gelassenheit, dann tippte Thea einen Protest in die Maschine und verschickte ihn dahin, wo sie Unterstützung für ihre Empörung erhoffte, damit einmal – und wieder einmal Gerechtigkeit würde.
Seit ich Thea kenne, ist sie mehrmals umgezogen. „Kurzaufenthalter bin ich seit je“, heisst es in Mauerhäute. Ihr ständiger Aufenthaltsort hingegen war die Sprache und ihr erklärter Wohnort die Zeit, in der wir leben, mit ihrenVersprechen und ihren Schrecken. Immer liess sie es zu, ausgeliefert zu sein, zum Aufbruch bereit.
Luzern, 17.09.2012