Von einer Wallfahrt und einer verdächtigen Postkarte
Am 7. Mai 1945 wurde der Waffenstillstand beschlossen. In ganz Europa und darüber hinaus wurde das Ende des 2. Weltkriegs gefeiert. Während einer halben Stunde läuteten um elf Uhr ringsum die Glocken. Und Petrus schenkte den Menschen nach einer Kälteperiode mit Regen und Schneestürmen einen strahlenden Maitag.
Zur Feier des lang erwarteten Ereignisses durften wir in die Höhe zum Wallfahrtsort Maria Rickenbach fahren. Keine Schule also!
Zu Fuss erreichten wir die Talstation in Dallenwil. Wollten die Schwestern, dass der eineinhalbstündige Fussmarsch unsere überschäumenden Lebensgeister etwas dämmte?
Die Luftseilbahn war eine offene Kiste. Zu viert sass man auf Holzbänken. Die etwas auseinander stehenden Fussbretter erlaubten Durchblicke auf die darunter liegenden Wiesen. Die Ellbogen legte man seitlich auf die Abschrankung; ein Segeltuch diente als Dach. Diese Klapperkiste musste immerhin gut 700 Meter Höhenunterschied überwinden. Anfangs fuhr sie sanft hoch über leicht ansteigenden Matten. Dann aber wurde es in der Nähe hoher Felsen immer steiler. Plötzlich ein Ruck! Unser Gefährt wackelte hin und her, hielt an, 5oo Meter über dem Boden, umgeben von steil abfallenden Felsen rechts und links.
Was war los? Würden wir abstürzen oder zur Talstation zurück sausen und dort in die Mauern krachen? Unsere liebe, blitzgescheite Deutschlehrerin Sr. Paula sass mit der quirligen Anne de Montfalcon, der Walliserin Noelle und mir in der Kiste. Ob sie wohl leise betete? Ich, das Stadtkind, fürchtete, dass schon ein tiefer Atemzug ein gefährliches Schaukeln der Kabine auslösen und unser Leben gefährden könnte. Ringsum nur Stille. Das leise Schwanken löste Todesangst aus. Warum ging die Fahrt nicht weiter? Natürlich gab es kein Telefon an der Bretterwand, das uns hätte beruhigen können. Wir erlebten, dass zehn Minuten sehr, sehr lang sein können.
Endlich wurden wir erlöst. Die Seile zogen uns wieder aufwärts, dem Ziel entgegen.
„Schnell in die Kirche!“ rief Sr. Johanna, „ihr seid die letzten!“ Dafür waren unsere Gebete die andächtigsten, sie kamen aus tiefstem Herzen.
Für uns Seminaristinnen wurde es nicht ein richtig freier Tag. Die grünen Botanisierbüchsen mussten gefüllt werden. Eine solche Gelegenheit, uns Alpenblumen zu zeigen, liess sich die strenge Sr. Emmanuela nicht entgehen.
Soldanella, Hornklee, Trollblume, Arnika, Leimkraut, Eisenhut, Lichtnelke, Mehlprimel, gelber Enzian und sogar Orchideen waren zu sammeln und zu benennen. Es verdunkelte meinen Tag, weil mein Wissen so klein war und natürlich beanstandet wurde.
In der Klosterwirtschaft gab es Kaffee und Kuchen. Wir erhielten die Erlaubnis, Ansichtskarten zu schreiben und ohne Kontrolle selber in den Briefkasten zu werfen. Jetzt erinnerte ich mich, dass ein Klassenkamerad meines Bruders heute Geburtstag feierte. Drei Jahre jüngere Studenten interessierten mich zwar nicht, aber ich wollte dem Burschen an diesem besonderen Tag eine Freude machen, hatte aber keine Ahnung, was meine harmlose Post auslösen würde. Bei der Verteilung der Briefsachen am Mittagstisch im Kollegium sei Karl feuerrot geworden. „Hat der Schatz geschrieben?“ hänselten die Mitschüler. Der Pater Präfekt wurde aufmerksam, besah sich die Karte und griff bald darauf zum Telefon. Der Anruf ging ins Institut.
Am Schluss unseres Abendessens verkündete Sr. Johanna: „Nummer vier kommt nachher auf die Präfektur.“ Ich klopfte also an, trat mit der üblichen Formel: „Entschuldigen Sie, Sr, Präfektin“ ein und wartete, bis die Nonne zu mir aufsah.
„Ich muss dann noch wissen, mit welchem Studenten du Korrespondenz hast!“, sagte sie.
Ich hatte doch keine Korrespondenz mit einem Studenten! Ich erklärte den Sachverhalt und glaubte, mich von jedem Verdacht befreit zu haben.
Ein Jahr darauf schrieb mir die frühere Mitschülerin Graziella aus Mailand. Ihr Vater besuche in Stans eine Geschäftsfreund, sie möchte mich, die Freundin von 1943, gerne treffen.
Aber die Präfektin erlaubte mir nicht, mit Graziella im Dorf zu flanieren. „Du hattest vor einem Jahr unerlaubten Briefwechsel mit einem Studenten, wir können dich nicht unbeaufsichtigt ins Dorf lassen.“
Ich stand ein Jahr vor den Schlussexamen als Lehrerin, war neunzehn Jahre alt und sollte also schon bald mit Schulbehörden, Eltern und Kollegen korrekt verkehren können.
Nur, der gute Ruf des Instituts durfte doch nicht durch mich gefährdet werden.