Stanser Erinnerungen 5

Von Kapuzinern und Lockenwicklern

Von Thea Uhr

Pater Adelrich hiess er und wohnte im Kapuzinerkloster. Ob er wohl gerne uns manchmal rebellierenden Töchtern Religionsunterricht erteilte?
Die Türe öffnete sich jeweils, der Pater schritt mit seinen Büchern gegen das Pult und erkundigte sich auf halbem Weg: „Hat noch jemand eine Frage?“
Wie ich hörte, musste er seit Jahren jede Stunde mit diesem Satz begonnen haben. Und seit Jahren schauten ihn die Mädchen an und blieben stumm. Für dieses Fach zerriss niemand einen Strick.

Mir tat der gute Pater leid. Und Fragen fand ich immer. Also schaute der Religionslehrer in jenem Mai erstaunt auf, als ich mich meldete. Aber was dann folgte, machte mich verlegen. Der Pater redete nur mit mir, sagte nicht: Sitzen! Ich stand also lange da, hinter mir wurde getuschelt und gespöttelt. Ich genierte mich, schwitzte, wurde rot.
„Hat er neue „bigoudis“?, flüsterte Anne. Wegen seines Bartes trug der Genfer Kapuziner unter den Mädchen den Spitznamen Père Bigoudis. Auf deutsch: Pater Lockenwickler.

Für die Mitschülerinnen stand das Urteil fest: „Du bist sein Liebling, das ist sonnenklar. Er redet ja nur noch mit dir, wir anderen sind ihm egal.“
An eine schwierige Frage erinnere ich mich gut, die zu einem langen Stehen führte und zu einer Antwort, die keine war.
Ich wollte wissen, woher das Böse kam.

„Gott hat den Menschen einen freien Willen gegeben, wir können wählen“, erklärte der Kuttenmann.
Damit gab ich mich nicht zufrieden. „Dann liegt die Möglichkeit zum Bösen im freien Willen?“, fragte ich. „Am Anfang war doch nur Gott, also nur Gutes. Warum können wir Menschen Böses wählen, das doch von irgendwo herkommen muss? Aber doch nicht von Gott? Woher dann?“
Der gute Pater gab sich alle Mühe, etwas nicht zu Verstehendes verständlich zu machen. Am Schluss resignierte er und erklärte: „Das Böse und sein Ursprung sind ein Geheimnis Gottes“.

Ich stellte ihm auch die Frage, ob ein Mensch lügen dürfe, wenn er damit eine ganze Stadt retten könnte. Sie wurde vom Pater mit einem klaren, harten Nein beantwortet.
Das konnte und wollte ich nicht glauben.

Vor Weihnachten stellte auch Myrtha eine Frage. „Warum kommen Neugeborene, die nur einige Minuten leben und also nicht getauft werden konnten, warum kommen die nicht in den Himmel?“ Der Pater rettete sich in theologische Spitzfindigkeiten. Diese ungetauften Babys hätten „noch keine eigenen Verdienste gesammelt und seien mit der Erbsünde behaftet“, hörten wir da. Aber gegen diese menschenfeindlichen Argumente rebellierten die Aufmüpfigen unter uns.

Ob der Pater in seiner Zelle sich selber die kanonisch vorgeschriebenen Antworten gab oder sich auch fragte, ob der liebende Gott so hart sein könne?
Lachen sah ich den guten Mann nie.