Stanser Erinnerungen 6

Vom frommen Denken und WC-Papier

von Thea Uhr

Der Tisch war lang und schmal. Oben sass die Präfektin, und wir Schülerinnen hatten unsere Plätze an den beiden Längsseiten, schön den Nummern nach.
Jeden Montag rückte man zwei Stühle weiter hinauf zu Schwester Johanna. So kamen alle Mädchen einmal im Trimester dazu, rechts und links von ihr zu sitzen und besonders anständig und aufmerksam zu sein.

Beim Morgenessen herrschte – ausser sonntags – strengstes Stillschweigen. Die gute Schwester wollte unser frommes Denken stärken und las uns schwere geistige Kost vor. Etwa so:
„Von der Übung des betrachtenden Gebetes“
Oder: „Vom Verzichten können aus Liebe zu Gott“.
Diese Lesungen in klösterlichem Singsang hätten uns beinahe nochmals einschlafen lassen.

Einmal aber brachte die Nonne ein in ihren Augen aktuelles Thema zur Sprache, das ganz ohne geistlichen Gehalt war:
„Ich muss euch bitten, mit dem WC-Papier sorgfältiger umzugehen! Vor gut vier Tagen haben wir die Blätter eines alten Telefonbuches zerschnitten und auf die WCs verteilt, doch schon sind sie verbraucht. Bemüht euch also, sparsamer zu sein. Es ist nicht leicht, genügend Nachschub zu erhalten.“

Ich rechnete schnell: 2000 : 44 = 45 dünne Blätter in vier Tagen, pro Kopf und Tag also gut zehn halbe Seiten, mit ungefähr 30 Telefonnummern auf Vor- und Rückseite, durch die Spülung entsorgt. Welche Imagination aufs trockene Brot! Ich wagte keine der Mitschülerinnen anzusehen. Ich kaute und schluckte alles hinunter, stillschweigend natürlich.

Am Mittagstisch vernahmen wir, wer so glücklich war, Post zu erhalten: „Nummer Zwei hat ein Paket, Nummer Vierzehn kann einen Brief abholen.“
Auch hörten wir, welche Nummern diese Woche zum Bad gehen durften. Wir waren Nummern, das schien im Verkehr mit uns einfacher, rationeller.

Wir sollten den ganzen Tag nur Hochdeutsch sprechen, damit die Genferinnen und Tessinerinnen vom Sprachkurs rascher Deutsch lernten. Und am Abendtisch kam die Kontrolle. Die Schwester las unsere Nummern vor, und wir mussten angeben, ob wir im Laufe des Tages Dialekt gesprochen hätten. Also riefen wir nacheinander: „Viel“, „wenig“ oder „Nie!“
Schwester Johanna füllte die Liste gewissenhaft, wahrscheinlich gewissenhafter als die Angaben der Sünderinnen unter uns.