Von Ochsen und Kuhmist
von Thea Uhr
Fünf Minuten vom Institut entfernt befand sich das Kapuzinerkloster mit dem grossen Schulgebäude, welches auch das Internat enthielt. Die Klosterschwestern waren sehr darauf bedacht, uns vor allen Kontakten mit den Studenten zu schützen. In dieser Hinsicht war unser Bedürfnis nach zu strengem Behütetsein gar nicht vorhanden.
Auf unseren Spaziergängen in schönen Zweierkolonnen bildeten zwei Lehrerinnen immer das Schlusslicht. Maria B. mit ihrer grossen, stattlichen Figur ging stets gemessenen Schrittes voraus. Wie zu vernehmen war, hätten die Studiosi jeweils gespöttelt: „Der Pflug kommt“, und Maria hatte ihren Spitznamen weg.
Die Studenten hiessen seit Generationen „die Ochsen“, uns nannten sie „die Gänse“. Autor unbekannt!
Wahrscheinlich klappten die Telefonate zwischen den Präfekturen gut, denn wir Mädchen und die Studenten wurden auf getrennte Wege geführt, „um frische Luft zu holen“, wie Schwester Johanna jeweils sagte. Nur einmal trottete uns, zum Ärger der Schwestern, eine Gruppe von Kollegianern auf dem gegenüberliegenden Trottoir entgegen. Meinem Bruder, den ich inmitten der Schar entdeckte, zu winken oder ihm gar etwas zuzurufen, das war nicht möglich, es wäre unpassend gewesen.
Und doch gab es die seltenen Gelegenheiten zu Blickkontakten, zum Beispiel, wenn wir das Kollegitheater besuchen durften. Einige schwärmten für den Darsteller des Königs Lear oder vom attraktiven Sologeiger. Und den Maturanden gefiel sicher eine temperamentvolle Tessinerin oder das liebliche Gesicht einer Genferin. Laurette und Monique mit ihren blonden Locken waren ja wirklich hübsche Mädchen. Im Eingangsbereich, in den Gängen und von der Empore herunter riefen und winkten die aufgeweckten Burschen. „Mädchen, schlagt die Augen nieder..!“
Im Jahr 1946 wurde „Drei Männer im Schnee“ gespielt, ein Luststück. Nun war es aber seit urdenklichen Zeiten Brauch, dass die Spieler bei der letzten Aufführung etwas Schabernack trieben und zum Beispiel über eine nicht gerade schmeichelhafte Karikaturzeichnung eines Professors witzelten: „Das ist sicher ein Meisterwerk von Pater Michelangelus!“ Der Zeichenlehrer wird den Spass ertragen haben.
In der Rolle des noblen Herrn musste der Mime vor dem Einfahren des Zuges am Kiosk jeweils eine Neue Zürcher Zeitung kaufen. Nein, heute, am letzten Tag sollte etwas anderes her! Mein Bruder bekam den Auftrag, von mir ein Exemplar der „St. Klara-Grüsse“, unserer Institutszeitschrift, zu verlangen. Und so schritt der Grandseigneur bei der letzten Aufführung zum Zeitungsaushang und verlangte weltmännisch: „Die St. Klara-Grüsse, bitte!” – Es brach ein schallendes Gelächter aus.
Nein, gebeichtet habe ich es nicht!
Einige Studenten interessierten sich – neben Griechisch und Latein, neben betörenden Aegypterinnen und verführerischen Sabinerinnen – auch für Menschen, das heisst für Mädchen aus der Gegenwart.
Drei aus der obersten Klasse beschlossen, abends spät an der Mauer des Internats hochzuklettern und einige Blicke in ein Zimmer von Tessinerinnen zu werfen, die sie tagsüber bei ihrem freien Ausgang schon mehrmals erspäht hatten.
Sie schlichen sich abends nach 21 Uhr davon, spurteten über den Friedhof zum Internat und nahmen den Aufstieg mutig in Angriff. Dann – sieben Meter über dem Boden – noch zwei Klimmzüge bis zum Fenstersims. Da nahte das Unheil!
Der Klosterpächter hatte in der nahen Scheune noch ein Seil holen wollen, hörte verdächtige Geräusche und Geflüster – Mädchenstimmen waren das nicht –, und leuchtete mit starkem Laternenstrahl die Mauer aus.
Die Burschen sprangen erschreckt hinunter und landeten weich im Misthaufen!
Kleinlaut verdrückten sie sich in Richtung Kollegium.
Der Pächter telefonierte dem Pater Rektor.
„Nehmen Sie ein paar Ausreisser in Empfang. Sie können sie nicht verfehlen, sie duften schon von weitem nach Mist!“